11. Februar 2023

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Erste Hilfe für Mütter bei traumatisierenden Geburtserfahrungen

In diesem Artikel erfährst Du, wie Du als Hebamme oder Ärztin Mütter nach einer belastenden oder traumatisierenden Geburt begleiten kannst. Für einen kurzen Überblick über die Thematik und um Dir erstes Handwerkszeug zu vermitteln, habe ich diesen Blogartikel geschrieben.

Falls Du Dich tiefer mit dem Thema beschäftigen möchtest empfehle ich Dir meine Onlinefortbildung „Wenn die Geburt zum Trauma wird“

Inhalt:

  1. Wie häufig sind traumatische Geburten?
  2. Was passiert bei einem Trauma im Gehirn und im Körper?
  3. Typische Sofort-Reaktionen nach einer traumatisierenden  Erfahrung
  4. Erste Hilfe in der Aktuphase
  5. Skillsbox
  6. No Go´s
  7. Netzwerk
  8. Ressourcen und weitere Möglichkeiten

1.  Wie häufig sind traumatisierende Geburtserfahrungen?

ForscherInnen können die genaue Anzahl traumatisierender Ereignisse in der Geburtshilfe nicht gut messen, weil jede Frau die Geburt Ihres Kindes, sowie die Zeit davor und danach individuell erlebt. Deshalb beschäftigen sich die meisten Wissenschaftlerinnen mit dem Auftreten von Traumafolgen. Dies können so genannte „traumatogene Stressreaktionen“ (TSR) sein, die kurz nach der Geburt auftreten oder die „posttraumatische Belastungsstörung“ PTBS welche meistens einige Wochen später symptomatisch wird. Die Häufigkeit traumatisierender Geburtserfahrungen wird je nach Untersuchung zwischen ca. 17% (Anke Rohde, Bonn 2001), DeSchepper  (Belgien 2015): 22% bis 24% aller Mütter und Kerstin Weidner Dresden 2019: mit 34,5% angegeben. 

2. Was passiert bei einem Trauma im Gehirn und im Körper?

Hier fasse ich in Kurzform zusammen, wie der Mensch grundsätzlich auf Extremereignisse reagiert. Man unterscheidet dabei 4 Phasen. Für die erste Hilfe nach einem traumatisierenden Ereignis sind die ersten beiden Phasen relevant. 

1.      Akutsituation
2.      Schockphase
3.      Einwirkphase
4.      Erholungsphase

Akutsituation:

In der Akutsituation werden massiv Stresshormonene freigesetzt. Das Gehirn reagiert mit archaischen, automatischen und instinktgesteuerten Reaktionen, auf die der Mensch kaum oder keinen Einfluss hat. Es geht nur darum, möglichst rasch Kampf oder Flucht zu ermöglichen. 

Der Blutdruck steigt, es kommt zur Muskelanspannung, beschleunigtem Herzschlag, schneller oberflächlicher Atmung, Freisetzung von Energie und Aktivierung des Gleichgewichtszentrums. Nicht benötigte Hirnareale, wie das Sprachzentrum werden weniger stark durchblutet (Sprachlosigkeit). Die Verbindung zwischen den archaischen, instinktgesteuerten Gehirnregionen und dem Großhirn ist gekappt. Erinnerungen werden fragmentarisch gespeichert. Wahrnehmung und Aufmerksamkeit sind auf das Aussen und nicht nach Innen gerichtet. Angst, Schmerz und die mit dem Ereignis verbundenen psychischen Reaktionen werden nicht bewusst wahrgenommen. 

Wenn die beiden Reaktionsmuster Kampf oder Flucht nicht möglich sind, reagiert  Körper mit dem so genannten Totstellreflex, der mit äusserster Hilflosigkeit und dem Erleben von Ausgeliefertsein einher geht. In einer akuten Gefahrensituation wirkt dieser Reflex wie ein Schutzschild.  

Schockphase (direkt nach dem Ereignis bis ein- bis zwei Wochen danach)

Aufrechterhaltung der o.g. Reaktionen, Desorientiertheit , Apathie, Angst, Abwesenheit von Gefühlen und gleiche körperliche Reaktionen, wie während des Ereignisses. Kopf und Körper wissen quasi noch nicht wirklich, dass nun alles vorbei ist. 

3. Typische Sofort-Reaktionen nach einem Trauma

Nach einem traumatisierenden Ereignis, reagieren Menschen auf ganz unterschiedliche und teils auch für sie selbst unvorhersehbare Weise. 

Dies sind „normale“ Reaktionen auf ein „unnormales“ Ereignis. Als Begleiter müssen wir wissen, dass es zu derartigen Reaktionen kommt und die Betroffenen als auch die Angehörigen darüber aufklären, dass diese Erstreaktionen stattfinden können. Damit nehmen wir zusätzliche Last von ihren Schultern.

  • Weinen, Schreien, Lachen, teils auch in Situationen, wo dies normalerweise nicht angemessen erscheint. 
  • Aggressionen: z.B. auch gegen den Partner oder beteiligte GeburtshelferInnen
  • Erstarrung und Rückzug bis hin zu Teilnahmslosigkeit
  • Unkontrollierbares Zittern. Dieses sollte wertschätzend begleitet, jedoch nicht unterbrochen werden, da es eine körperliche Reaktion zum Abbau der inneren Anspannung ist. 
  • Angst: diffuse Ängste direkt nach dem Ereignis, welches vorbei ist oder im späteren Verlauf. 
  • Ruhe und Gelassenheit, die in Anbetracht des Geschehens unangemessen erscheinen mag, was spätere Panikattacken nicht ausschließt
  • Seltsame und paradoxe Reaktionen, z.B. dass eine Person über das Geschehen lacht oder einem Detail, wie z.B. einem verschwundenen Handtuch des Babys akribische Aufmerksamkeit widmet. 
  • Weitere Reaktionen: kindliches Verhalten, Verdrängen der Realität bis hin zur Unbekümmertheit, sehr affektives Handeln, sehr kaltes, rationales Handeln

4. Erste Hilfe in der Akutphase

In der Akutphase geht es um Erstmaßnahmen zur Stabilisierung der Mutter (des Babys) und des Partners/ der Partnerin.

Wichtig ist es, sich mit Namen und Funktion vorzustellenund vor jeglicher Berührung oder Untersuchung sollte zunächst eine Vertrauensbasis aufgebaut werden.  

Körperliche Betreuung und Zuwendung. 

Eine traumatisierte Frau wurde in ihrer Würde und in ihrer körperlichen Unversehrtheit verletzt. Berührungen und Untersuchungen sollten reduziert und mit größter Zurückhaltung erfolgen und IMMER nur nach Erlaubnis durch die Mutter. Auch nonverbale oder sehr diskrete Signale müssen hier respektiert werden. Weniger ist mehr. 

(Teilweise geht es hier um ärztliche Aufgaben oder die Aufgaben einer Hebamme.)

Akutphase direkt nach dem Trauma:

  • Für Schutz und Ruhe der Mutter sorgen. Falls nötig, die Mutter aus der Gefahrenzone bringen, ggf. für ein ruhiges Zimmer sorgen, sofern möglich.
  • Körperliche Bedürfnisse stillen, wie Schutz, Wärme, Essen, Stuhlgang und Wasserlassen ermöglichen. 
  • Fragen nach Schmerzen und ob es evtl. unversorgte Geburts-Verletzungen oder sonstige Verletzungen gibt z.B. Rippenbrüche nach der Anwendung von Kristellerhilfe. Es kann sein, dass in der Akutsituation Schmerzen verneint werden. 
  • Ggf. Schmerzmedikation überprüfen oder ggf. Initiieren 
  • Maßnahmen treffen, um die Trennung von Mutter und Kind nach Möglichkeit zu vermeiden oder Mutter und Kind so schnell, wie medizinisch und organisatorisch möglich, wieder zu vereinen. 
  • Ist eine Trennung von Mutter und Kind unvermeidlich, ein Foto vom Baby besorgen.
  • Skillsbox nutzen (Erklärung folgt später)

Ca. Ab Tag 3 können folgende Dinge wichtig sein 

  • Auch hier wieder die Skillsbox nutzen, falls noch nicht geschehen oder falls die Mutter immer wieder innerlich abwesend ist. 
  • Hat die Mutter Fieber? Sehr vorsichtig und nur nach Erlaubnis durch die Mutter die Rückbildung (Kontraktion der Gebärmutter) kontrollieren. Möglichen Lochialstau beachten.
  • Zustand der Brüste? Nicht ungefragt berühren sondern lieber fragend eruieren: Milcheinschuss? Milchstau? Stillwunsch? Hilfe beim Anlegen des Babys anbieten oder falls dies nicht möglich ist, Abpumpen initiieren. Stillberaterin wenn möglich hinzu ziehen. Die Gewinnung von Kolostrum durch Ausstreichen von Hand (der Mutter) nicht vergessen (Anleitungen hierzu gibt es im Internet diverse)
  • Den meist auch mittraumatisierten Vater/Partner/Partnerin nicht vergessen. Was braucht er? Basale Bedürfnisse, wie Wärme, Essen und Trinken stillen. Den Vater nach seinen Erlebnissen und Gefühlen befragen.  

Information der Mutter und der Begleiter über das Geschehen

Ruhige, sachliche und vollständige Informationen über das äussere und körperliche Geschehen und die Art der eingeleiteten Maßnahmen geben. Dabei ist es wichtig, positiv die vorhandenen Ressourcen zu bestärken. Im Gespräch können Kleinigkeiten die die Mutter oder der Vater gut gemacht haben, hervorgehoben werden. 

Sicherheit, Halt und Verlässlichkeit vermitteln durch ehrliche und vollständige Information. Wichtig: Keine Versprechungen machen, die hinterher nicht eingehalten werden können. 

Die Mutter und die Partnerin/den Vater unbedingt über den Zustand des Kindes in Kenntnis setzen, falls erforderlich. 

Falls das Kind verstorben ist, wenn möglich Seelsorger hinzu ziehen und anbieten, das Kind gemeinsam anzusehen, zu waschen oder anzukleiden. 

Unbedingt die Partnerin/den Vater mit einbeziehen und über alles informieren. 

Beruhigung und einfache Entspannung

Sehr effektiv und einfach umsetzbar sind Atemübungen und Übungen, um im Hier und Jetzt zu bleiben:  Aufzählung dessen, was da ist. z.B. Sie sind jetzt hier in diesem Zimmer, es ist draußen Regenwetter, Wir haben Herbst, das Licht brennt, usw. Ggf Fenster öffnen. Es ist auch möglich, die Frau selbst beschreiben zu lassen, was im Raum ist. 

Eine weitere Möglichkeit ist, die Mutter in Aktion zu bringen, soweit ihr dies körperlich möglich ist.  z.B. Aufmerksamkeit auf die Füße und den Kontakt der Füße zum Boden lenken. Die Mutter auffordern, mit den Füßen auf den Boden zu stampfen. Die Aufforderung, die Arme zu strecken und die Hände zu öffnen und zu schließen.  

Fachlich kompetente psychologische Hilfe und Hilfe im Alltag organisieren

Kliniken haben oft einen Konsiliardienst und Therapeuten müssen in der Regel Notfalltermine vorhalten. 

Es gibt auch ein Hilfetelefon nach schwerer Geburt (hier Nummer nennen) und oder den Verein Traum(a) Geburt, sowie den Verein gerechte Geburt ,die unbürokratische Hilfe anbieten.

Erlitt die Mutter schwere Geburtsverletzungen oder wurde ein Kaiserschnitt durchgeführt, hat die Mutter unter bestimmten Umständen Anspruch auf eine Haushaltshilfe oder Mütterpflegerin. Viele Kliniken haben psychosoziale Dienste, die hinzugezogen werden können um Hilfe nach der Entlassung zu organisieren. 

Betreuung des Vaters/ Partners oder der Partnerin:

Auch hier wieder die Partnerin/ den Vater nicht vergessen. 

Es gibt auch die Möglichkeit eine Fortbildung zur Mental First Aid Helferin zu machen. 

5. Die Skillsbox

In jedem Kreissaal und auf der Wochenstation sollte, wenn möglich, eine so genannte Skillsbox vorgehalten werden. 

Eine Skillsbox kann verschiedene Dinge, wie eine Zitrone, ein Pefferminzbonbon, einen Igelball, Zitronensaftsticks, eine Kühlkompresse oder andere Dinge enthalten, um stärkere Sinnesreize zu setzen. Diese Sinnesreize helfen einer Mutter, die nach einer traumatischen Erfahrung eine Abspaltung erlebt und nicht mehr im Hier und Jetzt ist,(siehe Totstellreflex weiter oben), sich wieder im Hier und Jetzt zu orientieren. Mögliche Einsatzgebiete sind z.B. Nach einer Notsectio aber auch, wenn die Geburtsbegleiter das Gefühl haben, eine Mutter erlebt während der Geburt eine Abspaltung, z.B. auf Grund früherer Traumata, können die Sinnesreize aus der Skillsbox eingesetzt werden. Dazu die Mutter ansprechen und ankündigen, z.B. ich gebe Dir jetzt dieses Pfefferminzbonbon oder berühre Dich (am Arm) mit etwas Kaltem. 

6. No Go´s

Es gibt Verhaltensweisen von Fachpersonal über die Mütter immer wieder berichten und die sich traumaverstärkend auswirken können, weil sie zusätzlich verletzen:

  • Floskeln, wie: „Hauptsache das Baby ist gesund“ „Sie sind ja noch jung. Sie können ja noch ein weiteres Kind bekommen“ usw.
  • Vorwürfe: z.B. Waren Sie denn nicht bei der Vorsorge? Konnte man das nicht vorher erkennen? Haben Sie denn gar nichts gemerkt? 
  • Nicht die Wahrheit über den Zustand der Mutter oder des Kindes sagen/ verharmlosen.
  • Einen derben oder furchterregenden Wortschatz nutzen, wie z.B. „Das wird nicht wieder“ „Sie werden nie wieder ein Kind bekommen können.“ „Sie werden lebenslang geschädigt sein“ „Da kann man nichts machen“
  • Fremdwörter oder med. Fachterminologie benutzen ohne diese zu erklären.
  • Über die Person hinweg, statt mit ihr zu sprechen, z.B. bei der Visite oder mit dem Partner.
  • Hektik und Eile (dies steigert Angst und Nervosität der Mutter/ des Paares und vermittelt einen Mangel an Kompetenz).
  • Pathologisieren der Reaktionen der Mutter/ des Paares „Das ist nicht normal, wie sie sich verhalten“ auch non verbal.
  • Leere Versprechungen: „Das wird bald alles gut.“ „Das werden Sie bald vergessen haben.“  „Die betreffende Person (z.B. bei Gewalt im Kreissaal) wird zur Rechenschaft gezogen werden.

7. Netzwerk:

Wer im beruflichen Kontext häufiger mit Müttern rund um die Geburt Kontakt hat, dem empfehle ich, eine Kartei mit möglichen Adressen und Ansprechpersonen anzulegen, an die Mütter sich nach schwierigen Geburtserfahrungen wenden können. 

8. Ressourcen und weitere Möglichkeiten. 

Insbesondere Ärztinnen und Therapeutinnen, die Mütter nach schwierigen Geburten begleiten aber auch die Adressen von Selbsthilfegruppen können hilfreich sein. Diese findest Du zum Beispiel hier in meinem Netzwerk

Du möchtest Dich zu diesem Thema weiter fortbilden?

Dann ist vielleicht der Online-Selbstlernkurs für Fachfrauen „Wenn die Geburt zum Trauma wird“ für Dich richtig. 

Du erwirbst oder erweiterst Dein Wissen über die Traumaentstehung und die natürliche Traumaverarbeitung. Du erkennst den Übergang zu einer posttraumatischen Belastungsreaktion und analysierst traumaverstärkende Faktoren und was Mütter schützen kann. Du  weisst, wie Du die Mutter-Kind-Bindung stärken und wie Du mit einfachen Massnahmen die seelische und körperliche Heilung unterstützen kannst. Du kennst die Grenzen Deiner Arbeit. Du erlernst Möglichkeiten der Abgrenzung und der Selbstfürsorge.

Inhalte des Onlinekurses „Wenn die Geburt zum Trauma wird“:

Die Entstehung seelischer Geburtsverletzungen / Traumaentstehung / Definitionen • Die natürliche Traumaverarbeitung / Symptome und Übergang zur posttraumatischen Belastungsreaktion • Unterstützung nach Trauma im Wochenbett mit Erste-Hilfe-Übungen • Unterstützung der Bindung nach schwieriger Geburt • Körperliche Reaktionen nach einem Trauma und wie hier unterstützt werden kann • Seelische Traumaheilung inkl. Anwendung ätherischer Öle •  Unterstützung in einer Folgeschangerschaft nach traumatisierender Erfahrung incl. ausführlicher Anamnesebogen •  Wissen über Sekundärtraumatisierung bei Geburtshelferinnen und Instrumente zur Selbstfürsorge und Abgrenzung.

Quellen:

Bittner, A & Junge-Hoffmeister, Juliane & Schutkowski, N-K & Weidner, K. (2019). Traumatogene Stressreaktionen nach der Entbindung – die Rolle prä- und peripartaler Risikofaktoren sowie Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Beziehung. Geburtshilfe Frauenheilkd. 79.

De Schepper S. Post-Traumatic Stress Disorder after childbirth and the influence of maternity team care during labour and birth: A cohort study. Midwifery 2015 

Gaby Gschwend, Notfallpsychologie und Trauma- und Akuttherapie Ein kurzes Handbuch für die Praxis, Verlag Hans Huber, 1. Auflage 2002

Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland Ergebnisse der repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland Kurzfassung, Download am 9.01.2022, https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf

Panthlen A., Rohde A., Psychische Auswirkungen traumatisch erlebter Entbindungen, 2001

Ich verwende im Text abwechselnd die Begrifflichkeiten traumatisierende Geburt, traumatisierende Geburtserfahrung und traumatische Geburt. Mir ist bewusst, das das Trauma nicht die Geburt selbst ist, sondern dass, was aus dieser Erfahrung später entsteht. 

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