4. Mai 2025

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Was bedeutet „traumatische Geburt“?

Eine traumatische Geburt entsteht, wenn die Geburtserfahrung mit extremer Angst, Hilflosigkeit oder Kontrollverlust verbunden ist. Etwa jede fünfte Mutter erlebt ihre Geburt als traumatisch – das bedeutet in Deutschland über 138.000 Frauen jährlich. Bei rund 5% der Frauen entwickelt sich daraus eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach der Geburt.

Besonders wichtig zu wissen: Auch scheinbar „normale“ und „natürliche“ Geburten oder klinische Routinemaßnahmen können zu einem Geburtstrauma führen. Die Wahrnehmung einer Geburt als traumatisch ist subjektiv und hängt von der individuellen Erfahrung der Mutter ab. Entscheidend sind dabei nicht objektive medizinische Kriterien, sondern das persönliche Erleben der Gebärenden.

Geburtstrauma erkennen: Signale für Fachpersonen

Als Hebamme, Ärztin, Doula oder Stillberaterin kannst du anhand bestimmter Anzeichen erkennen, dass eine Mutter ihre Geburt möglicherweise traumatisch erlebt hat:

Unmittelbar nach der Geburt

  • Körperliche Anzeichen: Zittern (das nicht unterbrochen werden sollte), Schwitzen, auffallend erhöhter Puls, schnelle flache Atmung
  • Emotionale Reaktionen: ausgeprägte Teilnahmslosigkeit, unangemessene Ruhe oder im Gegenteil extreme Unruhe und Agitiertheit
  • Kognitive Symptome: Orientierungslosigkeit, Schwierigkeiten, einfache Fragen zu beantworten
  • Anzeichen für Dissoziation bei Geburt: „abwesender“ oder „glasiger“ Blick, verzögerte Reaktionen, Gefühl, nicht im eigenen Körper zu sein

In den ersten Tagen nach der Geburt

  • Vermeidung von Gesprächen über die Geburt oder im Gegenteil zwanghaftes Erzählen der traumatischen Geburtserfahrung
  • Übermäßige Wachsamkeit und Schreckhaftigkeit
  • Eindruck, dass die Mutter emotional nicht „angekommen“ ist
  • Schwierigkeiten beim Bonding oder beim Stillen, ohne klare körperliche Ursache
  • Schlafprobleme trotz Erschöpfung
  • Wiederholte Äußerungen wie „Ich konnte nichts tun“ oder „Niemand hat mir zugehört“

Wichtige Hinweise in der Interaktion

  • Die Mutter erschrickt bei Berührungen oder bestimmten Geräuschen
  • Sie zeigt Angst vor medizinischen Untersuchungen
  • Sie hat Schwierigkeiten, sich zu erinnern, oder kann die Geburt nur fragmentiert wiedergeben
  • Sie nutzt Worte wie „hilflos“, „ausgeliefert“, „Angst“ oder „Panik“, wenn sie von der Geburt spricht
  • Sie äußert Scham- oder Schuldgefühle im Zusammenhang mit der Geburt

Besonders aufmerksam solltest du sein, wenn eine Mutter über lange Phasen der Geburt „nichts mehr weiß“ oder betont, dass sie „abgeschaltet“ hat. Dies können Hinweise auf dissoziative Zustände während der Geburt sein, die mit einem erhöhten Risiko für eine spätere PTBS nach der Geburt einhergehen.

Faktoren, die eine Geburt traumatisch machen können

Die Geburt ist eine Grenzerfahrung, bei der verschiedene Faktoren zusammenwirken können, um ein Geburtstrauma auszulösen:

Situative Faktoren

  • Komplizierte oder sehr lange Geburtsverläufe
  • Schmerzen, die als unerträglich erlebt werden
  • Notfallsituationen und unerwartete medizinische Interventionen
  • Trennung vom Neugeborenen nach der Geburt

Interaktionsbezogene Faktoren

  • Gefühl, nicht gehört oder ernst genommen zu werden
  • Mangelnde Aufklärung über Eingriffe
  • Verletzung der Intimsphäre
  • Fehlen einer kontinuierlichen, unterstützenden Begleitung

Individuelle Faktoren

  • Vorherige Traumatisierungen, besonders sexuelle Gewalt
  • Traumatische Vorerfahrungen mit früheren Geburten
  • Geburtserfahrungen, die stark von den Erwartungen abweichen
  • Vorbestehende psychische Belastungen

Während der Geburt ist eine Frau in einem sehr angeregten und aufnahmefähigen Zustand. Worte, Blicke und Gesten werden sensibel aufgenommen. Eine Bemerkung oder Handlung, die für das Fachpersonal Routine ist, kann für die Gebärende eine emotionale Verletzung darstellen und zu einer traumatischen Geburtserfahrung beitragen.

Doula oder Hebamme hilft bei der Verarbeitung einer traumatischen Geburt

Der natürliche Verarbeitungsprozess und wann er stockt

Nach einer traumatischen Geburt durchläuft die Mutter in der Regel drei Phasen der Verarbeitung:

  1. Schockphase (erste Stunden bis Tage):
    • Überforderung und Verwirrung
    • Teilweise Betäubung der Gefühle
    • Orientierungslosigkeit oder ungewöhnliche Ruhe
  2. Einwirkphase (ca. zwei Wochen):
    • Starke Beschäftigung mit den Ereignissen
    • Bedürfnis, über die traumatische Geburt zu sprechen oder komplettes vermeiden
    • Selbstzweifel oder Wut
    • Schlafstörungen und Anspannung
  3. Erholungsphase (ab ca. 2-4 Wochen):
    • Erinnerungen an das Geburtstrauma verblassen
    • Dauererregung lässt nach
    • Fähigkeit, wieder nach vorne zu blicken

Wenn dieser natürliche Heilungsprozess gestört wird, kann es zum Übergang in eine chronische Belastungsreaktion oder PTBS nach der Geburt kommen. Alarmsignale dafür sind:

  • Die Symptome lassen nach 4-6 Wochen nicht nach oder verstärken sich sogar
  • Starke Vermeidung von allem, was mit der Geburt zusammenhängt
  • Anhaltende Flashbacks und Albträume
  • Zunehmende Bindungsprobleme zum Kind
  • Selbstdestruktives Verhalten oder starker sozialer Rückzug

Traumasensible Geburtsbegleitung nach der Geburt

Als Fachperson kannst du durch traumasensible Begleitung nach der Geburt entscheidend dazu beitragen, den Heilungsprozess zu unterstützen:

Direkt nach einer schwierigen Geburt

  1. Sorge für körperliche Sicherheit und Erfüllung der Grundbedürfnisse (Wärme, Nahrung, Ruhe)
  2. Stelle eine ruhige, geschützte Umgebung her
  3. Ermögliche Körperkontakt zwischen Mutter und Kind, wenn gewünscht
  4. Erkläre sachlich und einfühlsam, was geschehen ist, ohne zu dramatisieren
  5. Gib der Mutter Raum für ihre Gefühle, ohne sie zu bewerten

Bei Anzeichen einer Dissoziation

  1. Nutze eine „Skillsbox“ mit stark stimulierenden Sinnesreizen (Zitrone, Pfefferminzbonbon, Igelball), um die Mutter ins Hier und Jetzt zurückzuholen, falls sie disszoziert ist
  2. Sprich die Mutter mit Namen an und kündige alle Handlungen an
  3. Stoppe alle Handlungen oder Untersuchungen, falls die Mutter diesen Wunsch (auch nonverbal) andeutet oder erstarrt. Damit gibst Du ihr die Kontrolle zurück.
  4. Öffne ein Fenster für frische Luft und natürliche Geräusche
  5. Ermutige die Mutter, zu beschreiben, was sich im Raum befindet (Grounding)
  6. Unterstütze einfache körperliche Aktionen wie Strecken der Arme oder Öffnen und Schließen der Hände

In der weiteren Begleitung

  1. Führe ein achtsames Nachgespräch, bei dem die Geburt rekonstruiert werden kann
  2. Validiere die traumatische Geburtserfahrung der Mutter („Das klingt sehr belastend“)
  3. Vermeide verharmlosende Aussagen („Hauptsache, das Baby ist gesund“)
  4. Biete praktische Unterstützung an (z.B. durch durch die Unterstützung bei der Organisation von Mütterpflegerin, Haushaltshilfe oder Stillberatung)
  5. Beziehe den Partner oder die Partnerin ein, die ebenfalls durch die traumatische Geburt belastet sein können
Symptome bei Geburtstrauma erkennen – körperlich, emotional, kognitiv

PTBS nach Geburt: Wann professionelle Hilfe vermitteln

Als Fachperson solltest du professionelle Hilfe bei PTBS nach der Geburt empfehlen, wenn:

  • Die Symptome nach 3 Monaten noch stark ausgeprägt sind
  • Die Mutter unter erheblichem Leidensdruck steht
  • Die Bindung zum Kind deutlich beeinträchtigt ist
  • Die Alltagsbewältigung stark erschwert ist
  • Selbstdestruktive Gedanken auftreten

Die gute Nachricht: Eine traumatische Geburtserfahrung kann mit der richtigen Unterstützung verarbeitet werden. Etwa ein Drittel der betroffenen Frauen erholt sich ohne spezifische Therapie, einem weiteren Drittel kann mit stabilisierender Unterstützung geholfen werden.

Für die Vermittlung von Hilfe bei PTBS nach der Geburt kannst du auf folgende Netzwerke zurückgreifen:

  • Hebammenbegleitung im Wochenbett
  • Organisation einer Haushaltshilfe oder Mütterpflegerin
  • Anbindung an ambulante Psychotherapie mit Trauma-Schwerpunkt
  • Spezialisierte Beratungsstellen für Geburtstrauma

Fazit: Traumasensible Geburtsbegleitung macht den Unterschied

Die achtsame Begleitung nach einer traumatischen Geburt kann entscheidend dazu beitragen, dass die natürlichen Selbstheilungskräfte der Mutter aktiviert werden. Als Fachperson hast du die wichtige Aufgabe, Anzeichen eines Geburtstraumas frühzeitig zu erkennen und einfühlsam darauf zu reagieren. Wie die Geburtsforscherin Hodnett treffend formulierte:

„Weder der Einfluss von Wehenschmerz oder Schmerzerleichterung, noch der von medizinischen Interventionen unter der Geburt, ist für die spätere Zufriedenheit mit der Geburt so offensichtlich, direkt und tiefgreifend wie der Einfluss der Haltung und des Verhaltens der Betreuenden.“


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Dr. Ute Taschner erklärt Anzeichen einer traumatischen Geburt
Anleitung für Fachkräfte: Traumasensible Begleitung

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